Der Klimakiller wird zum Rohstoff
Künstliche Photosynthese: Siemens Energy und Evonik nehmen eine Demonstrationsanlage in Betrieb, die Kohlendioxid als Rohstoff nutzt, Energie speichert und kostengünstig Spezialchemikalien produziert
Von Hubertus Breuer
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Wie eine Pflanze wirkt die Demonstrationsanlage in der Evonik-Werkshalle in Marl in Nordrhein-Westfalen gewiss nicht gerade – kein Grün, dafür jede Menge Metall. Und doch findet hier eine Art Photosynthese statt – künstliche Photosynthese. In einem Container findet sich ein großer Kasten mit Kabeln und Knöpfen – ein Elektrolyseur, der aus grünem Strom, Kohlendioxid (CO2) und Wasser ein Synthesegas aus Kohlenmonoxid (CO) und Wasserstoff herstellt. Von dort führt ein Schlauch an Messinstrumenten und Kontrolldisplays vorbei aus dem Container zu einer benachbarten Halle, in der ein acht Meter hoher Stahlzylinder steht. In dem Bioreaktor verarbeiten Bakterien das Gas zu chemischen Stoffen wie Hexanol und Butanol. Eine Photosynthese wie bei Pflanzen, die mittels Sonnenergie aus Wasser und CO2 etwa Zucker herstellen, ist es also nicht. Aber gewiss eine künstliche Variante.
Zwei Unternehmen bringen bei der ‚Rheticus‘ genannten Anlage ihre Kernkompetenzen ein – Siemens Energy seinen komplett automatisierten Niedertemperaturelektrolyseur, und der Spezialist für Spezialchemikalien Evonik, der seinen größten Standort in Marl hat, das biologische Fermentationsverfahren. Nach mehreren Jahren Arbeit werden diese beiden Technologien jetzt in einer Testanlage miteinander verbunden – ein Durchbruch für Power-to-X-Lösungen.
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Industrietauglich
Damit trägt das Verfahren zur Energiewende bei – Deutschland beabsichtigt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Eingesetzt werden soll es dabei in allen industriellen Anlagen, bei denen große Mengen an CO2 anfallen.
Die Umwandlung von CO2 in CO und von Wasser in H2 stellt für sich betrachtet bereits einen Energiespeicher zur Verfügung. Das primäre Ziel des Rheticus-Verfahrens ist jedoch die Nutzung des Synthesegases in einem Bioreaktor zur kostengünstigen und nachhaltigen Herstellung von Spezialchemikalien, die heute noch oftmals mithilfe von Erdöl oder Erdgas hergestellt werden. Jetzt kann für viele dieser Chemikalien CO2 als Rohstoff eingesetzt werden. „Das Verfahren hilft nicht nur, das Kohlendioxid in der Atmosphäre zu reduzieren, sondern auch, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern“, sagt Karl-Josef Kuhn, Leiter von Technology Field Power-to-X und Storage bei Siemens Energy. „Und noch besser: Das System ist für die Industrie je nach Bedarf skalierbar.“
Vielfältig nachhaltig
Der Elektrolyseur von Siemens Energy wandelt CO2 und Wasser in Kohlenmonoxid (CO) und Wasserstoff (H2) um. Erreicht wird dies durch 10 Elektrolysezellen mit einer Gesamtleistung von rund 25 KW. Das aus CO und H2 bestehende Synthesegas strömt dann in den Bioreaktor von Evonik mit einem Fassungsvermögen von 2.000 Litern. Dort wird es von zwei Arten von Clostridien-Bakterien in Butanol und Hexanol umgewandelt. Beide Produkte werden unter anderem für Spezialkunststoffe oder Nahrungsergänzungsmittel verwendet. Käme es zu einem Stromausfall, könnte der Prozess noch mehrere Stunden weiterlaufen.
Das Verfahren ist in mehr als einer Hinsicht nachhaltig. Grüner Strom für den Elektrolyseur sorgt dafür, dass die Energiequelle selbst CO2-frei ist. Siemens Energy und Evonik haben berechnet, dass eine Anlage, die jährlich 10.000 Tonnen Hexanol und Butanol produziert, 25,5 Megawatt Leistung benötigt. Je nach Standort, Witterungsbedingungen und Art der installierten Photovoltaik entspricht dies in Deutschland dem jährlichen Energieertrag einer Solaranlage auf einer Fläche von 0,15 Quadratkilometern. Zum Vergleich: Nach Schätzungen produzierten alle Photovoltaikanlagen weltweit 2019 635 Gigawatt, Deutschland 49 GW. Aber selbst, wenn der Elektrolyseur nur zur Energiespeicherung eingesetzt werden würde, kann er immer noch zur Stabilisierung der Stromnetze beitragen.
„Das Verfahren hilft nicht nur, das Kohlendioxid in der Atmosphäre zu reduzieren, sondern auch, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern.“Karl-Josef Kuhn, Leiter von Technology Field Power-to-X und Storage bei Siemens Energy
Verschiedenste Spezialchemikalien
Die Anlage reduziert weiterhin die CO2-Belastung, indem sie das Treibhausgas als Rohstoff verwendet und so gar nicht erst in die Atmosphäre gelangen zu lassen. Für die Produktion der 10.000 Tonnen Hexanol und Butanol würden jährlich rund 25.000 Tonnen CO2 gebraucht. Für die Industrie kein Problem, hat das Umweltbundesamt doch ermittelt, dass in Deutschland durch Industrieprozesse allein jährlich rund 45 Millionen Tonnen CO2- Emissionen entstehen. Darüber hinaus lässt sich die Rheticus-Plattform potentiell für verschiedenste Fermentationsprozesse nutzen, um eine Vielzahl chemischer Substanzen etwa für synthetische Kraftstoffe herzustellen.
Während das Konzept längst bewiesen ist, stellen Siemens Energy und Evonik in Marl jetzt noch verbleibenden Fragen: Wie sieht beispielsweise die optimale Gestaltung der Schnittstellen zwischen Elektrolyseur und Fermenter aus? Bewähren sich die Clostridien-Bakterien im industriellen Maßstab einer vollintegrierten Anlage? Kann man den Prozess auch kontinuierlich laufen lassen? Die Antworten werden wertvolle Erkenntnisse für eine potentielle Pilotanlage liefern, die für den Markt bereit is.
Hubertus Breuer ist unabhängiger Wissenschafts- und Technologiejournalist mit Sitz in München.
Bildrechte: Siemens Energy, Evonik