Chemiepark Marl

Wie ein Chemieunternehmen eine Million Tonnen CO2 einspart

Chemikalien sind für das tägliche Leben unentbehrlich, doch ihre Produktion ist häufig energieintensiv und wird nach wie vor überwiegend mit fossilen Brennstoffen befeuert. Dies hat die Branche zu einem großen Emittenten von Treibhausgasen werden lassen. Deutsche Chemieunternehmen wie Evonik demonstrieren jedoch, dass es Wege gibt, die Klimabilanz der Branche effizient zu verbessern.

 

Von Ingo Petz

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Seit seiner Gründung im Jahr 1938 wurde der Chemiepark Marl, in dem heute rund 100 Produktionsanlagen untergebracht sind, über fossile Energieträger – in erster Linie Kohle –  mit Strom und Dampf aus eigenen Kraftwerken versorgt. Doch die Kohle-Ära ist bald Geschichte.  Im Ruhrgebiet –  einst in erster Linie bekannt für seine Schwerindustrie und den Kohlebergbau – wird die energieintensive Produktion der rund 4.000 chemischen Produkte durch den Bau von drei neuen hochmodernen 90-Megawatt-Kraftwerksblöcken mit Gas- und Dampfturbinen (GuD) deutlich umweltverträglicher und effizienter gestaltet. Dank der neuen Anlagen können jährlich bis zu eine Million Tonnen Kohlendioxid (CO2) eingespart werden. Um eine ähnliche Reduktion zu erreichen, müsste man 500.000 Autos von den Straßen nehmen oder 46 Millionen großgewachsene Bäume pflanzen.

 

Für eines der größten deutschen Chemieunternehmen Evonik als Betreiber des Chemieparks Marl bedeutet das Projekt den Sprung in ein neues Energiezeitalter. „Die Investitionen in die neuen Anlagen sind für uns absolut entscheidend“, sagt Stefan Haver, „denn sie markieren das Ende der Kohleverstromung bei Evonik.“ Haver ist als Leiter Sustainability verantwortlich für die neue Klima- und Nachhaltigkeitsstrategie 2020+ bei Evonik: „Ein Aspekt dieser Nachhaltigkeits-Roadmap 2020+ ist die Halbierung unserer Emissionen bis 2025 (ausgehend von 2008); und die Kraft-Wärme-Kopplung auf Basis von Erdgas ist ein wichtiger Baustein, um dieses Ziel zu erreichen.“

 

Andreas Steidle, Leiter des Energiemanagements bei Evonik, stimmt dem zu: „Ein wirklich intelligentes Energiesystem ist wahrscheinlich einer der mächtigsten Hebel für Kostenkontrolle, Effizienz und Nachhaltigkeit – das gilt besonders für die chemische Industrie.“ Und er fügt hinzu: „Erdgas kann für eine gewisse Übergangszeit Kohle ersetzen, aber eine entfossilisierte und klimaneutrale Energieversorgung wird die nächste Herausforderung sein.“ Deshalb sind die Kraftwerke brennstoffflexibel ausgelegt. Sie können nach technischen Anpassungen künftig beispielsweise auch mit grünem Wasserstoff betrieben werden. Evonik und Siemens Energy arbeiten in Marl bereits gemeinsam an einem Projekt zur Umwandlung von CO2 und Wasser in Spezialchemikalien mit Hilfe von Strom aus erneuerbaren Energien und Bakterien – ein Projekt, das auch die Produktion von grünem Wasserstoff vorsieht. „Ein massiver Wandel hat begonnen“, sagt Haver, der die jüngsten Veränderungen in der chemischen Industrie als „Revolution“ bezeichnet.

„Nachhaltigkeit wird heute nicht nur als Kostenfaktor gesehen, sondern auch als solider Wachstumstreiber – und das gibt der Branche Schwung.“
Stefan Haver, Head of Sustainability, Evonik 

Chemieproduktion in der Energiewende

Noch gelten die Covid-19-Beschränkungen. Deswegen wird das Grossprojekt für Thomas Hagen, Projektleiter bei Siemens Energy, auf dem Bildschirm übertragen.  In seinem Home Office, das sich in Erlangen befindet, muss Hagen nur seinen Laptop öffnen, um den Fortschritt auf der riesigen Baustelle im Chemiepark Marl zu verfolgen und so einen Blick in die Zukunft zu werfen. Als Projektleiter laufen bei Hagen alle Fäden dieses speziellen Bauprojektes zusammen. „Früher wäre so ein Projekt bei einer Pandemie ins Stocken geraten. Jetzt kommen wir aufgrund von detaillierten Planungen und der sehr sachkundigen Kooperation mit Evonik fast verlust- und verzugsfrei voran.“

 

An diesem Morgen kann man sehen: Die Gas- und Dampfturbinen sind bereits montiert, die Kessel stehen, die beiden Schornsteine ragen 56 Meter in die Höhe, überall sieht man Rohre und Leitungen. Außerdem wird gerade die blaue Fassade des neuen Kraftwerks geschlossen. „Wir sind in der Errichtungsphase relativ weit fortgeschritten“, sagt Hagen, der Elektrotechnik studiert hat und seit 20 Jahren bei Siemens arbeitet. Auch die Leittechnik wird von Siemens Energy installiert und von einem Standort in Essen geliefert, keine 30 Kilometer von Marl entfernt. „Das ist ein weiterer Hinweis dafür, wie eng wir mit unseren Kunden zusammenarbeiten“, sagt Hagen.

 

Die Kraftwerke, die bis 2022 fertiggestellt werden sollen, verfügen über spezielle Abhitzedampferzeuger und Katalysatoren, die es ermöglichen, dass sich die Anlage nicht nur über fossiles Erdgas betreiben lässt, sondern auch mit regasifiziertem Flüssiggas (LNG) oder verschiedenen anderen Gasen, wie eben den Restgasen aus Produktionsprozessen. Dadurch steigt der Brennstoffwirkungsgrad der Anlage auf über 90 Prozent.

 

Darüber hinaus werden die Anlagen nicht nur Strom erzeugen, sondern auch die Versorgung mit bis zu 220 Tonnen Prozessdampf pro Stunde und Kraftwerksblock gewährleisten. Rund 2.000 Haushalte werden über das zusammenhängende Dampfnetz des Standorts mit Fernwärme versorgt. „Die neuen Kraftwerke“, so Stefan Haver, Leiter Sustainability bei Evonik, „geben uns auch die für die Chemieproduktion in der Energiewende wichtige Flexibilität, Lastschwankungen in Netzen mit einem höheren Anteil an erneuerbaren Energien auszugleichen. Es ist also eine Investition, die für uns genau in die richtige Richtung geht.“

Leasingmodell als optimale Finanzierungslösung

Insgesamt investieren die ansässigen Unternehmen zwischen 2019 und 2022 mehr als eine Milliarde Euro in den Umbau des Chemieparks Marl. Die beiden GuD-Kraftwerksblöcke, die Siemens Energy schlüsselfertig für Evonik errichtet, werden allerdings nicht wie üblich erworben. Siemens Financial Services hat in Zusammenarbeit mit Siemens Energy eine maßgeschneiderte Leasing-Finanzierungslösung entworfen. „Evonik hat klare Ideen für Innovations- und Optimierungsinvestitionen“, sagt Heiko Mennerich, Leiter des Geschäftsgebiets Energy & Utilities von Evonik, „in die wir investieren wollen. Investitionen in die Infrastruktur sind dabei nur die zweite Wahl, weil wir mit Innovationen in der Spezialchemie wachsen wollen. Und so ist das Leasingmodell eine gute Finanzierungslösung, um dahingehend unseren Bedürfnissen gerecht zu werden und unsere künftigen Wirtschaftsziele mit einem starken Partner umzusetzen.“

Elektrifizierung der Chemieindustrie

Auch wenn die Chemie im industriellen Sektor zu den größeren Verursachern von Emissionen zählt, hat sie zwischen 1990 und 2017 allein in Deutschland die Treibhausgasemissionen laut des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) um 48 Prozent senken können. „Wenn es um Klimawandel und Klimaschutz geht“, sagt Stefan Haver, „müssen wir feststellen, dass die chemische Industrie sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung ist. Unsere Produkte und Lösungen tragen weiterhin massiv zur Effizienzsteigerung in vielen anderen Branchen und Technologien bei. Für uns geht es jetzt darum, Wertschöpfungsketten in Kreisläufe zu verwandeln und den Kohlenstoffkreislauf zu schließen. Nachhaltigkeit wird heute nicht mehr einseitig als Kostenfaktor gesehen, sondern ist ein echter Wachstumstreiber mit neuen Aufgabenfeldern–das gibt der Branche Schwung.“

 

Die umfassende Modernisierung des Kraftwerksparks im Chemiepark ist beispielhaft für die Veränderungen, die auch die gesamte Branche erwarten: Dazu gehören neue Kraftwerke, die Versorgungssicherheit garantieren; ein effizienteres, durchdigitalisiertes Energiemanagementsystem; und eine Versuchsanlage, die an kohlenstoffneutralen Rohstoffen für die Chemieproduktion arbeitet, also an Spezialchemikalien, die die Energieeffizienz bereits in sich tragen. Mit all diesen Elementen hat die Anlage eine Schlüsselfunktion für Evonik, wie Haver betont: „Wenn man in diesem Maße investiert, wie wir hier in Marl, ist die entscheidende Frage: wie bekommt man am meisten für sein Geld? Wie bekommt man für jeden Euro, den man einsetzt, den entscheidenden Mehrwert?“ Er stoppt kurz, denkt nach, dann setzt er seine Rede so leidenschaftlich fort, als würde das Wort Zukunft mit seiner ureigenen Energie für Redetreibstoff sorgen. „Marl hat also den Vorteil, dass die Investition unmittelbar in den Ökobilanzen zahlreicher unserer Produkte sichtbar wird und wir sie direkt an den Kunden weitergeben können.“

 

Evonik schaut sich dabei auch an, welche ihrer chemischen Spezialprodukte relevant für die Emissionsreduzierung sind und wie sie optimiert werden können, damit sie auch Kunden helfen, um deren Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Das Stichwort heißt: Elektrifizierung der Chemie. Künftig könnten alternative Energie- und Rohstoffquellenquellen z.B. auf Basis der künstlichen Photosynthese genutzt werden, um chemische Produkte zu produzieren. Ein Prozess, der zwar CO2-frei sein wird, aber höchst energieintensiv ist. Bedeutet wiederum, dass nachhaltige Innovation nicht nur Finanzmittel benötigt, sondern gleichzeitig den Strombedarf massiv befeuert.

 

Laut der VCI-Studie von 2019 werden diese neuen, strombasierten Verfahren den Strombedarf allein der deutschen Chemie ab Mitte der 2030er Jahre auf 685 Terawattstunden jährlich anheben, was mehr als der gesamten deutschen Stromproduktion von 2018 entspricht. Das bedeutet, dass die Chemieindustrie weiterhin eine Partnerschaft mit Spezialisten aus allen Bereichen, einschließlich Energie, benötigt. „Die Herausforderungen der Zukunft in der chemischen Industrie sind komplex“, sagt Haver, „da tun wir gut daran, noch mehr auf Kollaborationen zu setzen, um mit den jeweils ureigenen Kompetenzen zum Erreichen von Klimaneutralität beitragen zu können.“ 

Mai 26, 2021

Autor und Journalist Ingo Petz lebt in Berlin, wo er für einige der renommiertesten Publikationen im deutschsprachigen Raum geschrieben hat, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung und Der Standard.

 

Bild- und Filmrechte: Siemens Energy, Evonik

+ 270 Megawatt

Mit dem Bau von drei 90-Megawatt-Kraftwerksblöcken wurde der Grundstein für die Zukunft mit wasserstofftauglichen Turbinen gelegt.

 

90% + Brennstoff-Wirkungsgrad

Spezielle Abhitzedampferzeuger und Katalysatoren ermöglichen den Betrieb der Anlagen mit verschiedenen Gasen, einschließlich Restgasen aus Produktionsprozessen.

 

-1 Million Tonnen CO2

Durch den Einsatz von Erdgas zur Erzeugung von Strom, Dampf und Prozesswärme werden die weltweiten Emissionen von Evonik um ein Fünftel gesenkt.

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